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"Rare Disease - rechtlicher Blickwinkel", Interview mit Prof. Dr. iur. utr. Brigitte Tag, Kompetenzzentrum Medizin-Ethik-Recht Helvetiae (MERH), UZH

Wann gilt eine Krankheit als selten?

In der EU gilt eine Krankheit als selten, wenn von ihr höchstens fünf von 10'000 Personen betroffen sind und sie lebensbedrohlich oder chronisch invalidisierend ist. Die Schweiz hat diese Definition übernommen. Andere Länder definieren seltene Krankheiten aber zum Teil abweichend: In den USA beispielsweise gilt eine Krankheit als selten, wenn weniger als 7.5 Personen von 10'000 betroffen sind. Statistische Berechnungen gehen davon aus, dass in der Schweiz ca. 600'000 Personen von einer seltenen Krankheit betroffen sind. 

Das Auftreten seltener Krankheiten variiert zwischen den verschiedenen Ländern. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon ist die genetische Disposition. So ist z.B. die zystische Fibrose eine seltene Krankheiten – statistisch gesehen – die in der europäischen Bevölkerung oftmals vorkommt, in asiatischen Bevölkerungsgruppen ist sie kaum verbreitet. 

Neben solchen seltenen Krankheiten, die vergleichsweise relativ häufig vorkommen, gibt es tausende seltene Krankheiten, die kaum bekannt und sehr selten anzutreffen sind. Häufig sind sie genetischen Ursprungs.

Mit welchen Herausforderungen sind Menschen mit seltenen Krankheiten konfrontiert?

Menschen, bei denen der Verdacht auf eine seltene Krankheit besteht oder eine bestätigte Diagnose vorliegt, stehen vor vielgestaltigen Herausforderungen.  Die Schwierigkeiten beginnen häufig bereits bei der Diagnosestellung, denn sie ist oftmals nicht oder erst mit grosser zeitlicher Verzögerung möglich. Die Arbeitsdiagnosen, die zunächst gestellt werden, stellen sich oftmals als unzutreffend heraus.  Es gibt Erhebungen, die besagen, dass bei 25 % der Betroffenen die richtige Diagnose erst nach über fünf Jahren gestellt wird. Weiss die erkrankte Person, dass sie eine seltene Krankheit hat, ist es häufig schwierig, eine Arztperson zu finden, die auf die Behandlung spezialisiert ist. Zwar gibt es dank dem Nationalen Konzept Seltene Krankheiten immer mehr spezialisierte Versorgungs-strukturen. Doch es gibt noch viel Nachholbedarf.

Oftmals gibt es noch keine Therapie und wenn doch, dann handelt es sich bei den Medikamenten, die eingesetzt werden, um die sog. «off-label-Anwendung», d.h. um eine Anwendung ausserhalb der zugelassenen Indikation.

Eine weitere Herausforderung stellt sich bei der Vergütung von Therapien durch die Sozialver-sicherungen. Die obligatorischen Krankenpflegeversicherung bezahlt Medikamente, wenn sie auf der Spezialitätenliste aufgenommen sind, was bei den orphan drugs häufig nicht der Fall ist. Zwar gelten dann Sonderregelungen, bei denen aber den Vertragsparteien ein grosser Ermessensspielraum eingeräumt wird. Das bedeutet, dass die Bewilligungspraxis unter den Krankenversicherungen sehr unterschiedlich sind. 

Vor kurzem wurde in der Presse berichtet, dass die teuerste Spritze der Welt von Swissmedic für die Therapie einer seltene Erkrankung zugelassen wurde. Steht das im Verhältnis zu den Ausgaben für andere schwere Erkrankungen?

Das ist eine schwierige Frage. Es geht hier um eine Gentherapie bei Hämophilie B, einer meist angeborenen und vererbbaren Störung der Blutgerinnung.  Hämophilie A und B gehören zu den seltenen Erkrankungen, in der Schweiz sind ca. 750 Patienten im nationalen Hämophilieregister erfasst. Schätzungen zufolge hat ca. 1 von 50'000 Babys diese seltene genetische Erkrankung, wobei  die Verlaufsformen leicht, mittel oder schwer sein können. Die Einzeldosis dieser Gentherapie kostet in den USA 3,5 Mio. Dollar, in der Schweiz läuft das Verfahren zur Aufnahme in die Spezialitätenliste. 

Wenn man zunächst nur von den Zahlen, d.h. von den 3,5 Mio. Dollar ausgeht, so ist das ein sehr hoher Betrag. Sollte die Spritze allerdings die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, wovon nach den Arzneimittelstudien auszugehen ist, so entfällt nach und nach die ansonsten lebenslang notwendige Prophylaxe, was rein rechnerisch zu einer grossen Kosteneinsparung führt und für die Betroffenen eine grosse Erleichterung darstellt.

Dennoch ist die Frage der Gerechtigkeit und der fairen Mittelverteilung im Gesundheitswesen ein wichtiges rechtliches und ethisches Thema, das genau angesehen werden muss.

Welche Rolle spielt die Geburtsgebrechenlsite im Bereich der seltenen Krankheiten?

Im Bereich der seltenen Krankheiten ist nicht nur die obligatorische Krankenpflegeversicherung, sondern auch die Invalidenversicherung (IV) eine wichtiger Partnerin. Die IV übernimmt bis zum 20. Lebensjahr die Kosten für notwendige medizinische Massnahmen, soweit es sich um ein anerkanntes Geburtsgebrechen handelt.  Als Geburtsgebrechen gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen. Die als Geburtsgebrechen anerkannten Leiden, für die ein Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung (IV) besteht, sind in der sog. Geburtsgebrechenliste aufgenommen. Bezogen auf die seltenen Krankheiten bedeutet das: wenn die konkrete seltene Krankheit als Geburts-gebrechen in die Geburtsgebrechenliste aufgenommen wurde, dann übernimmt die IV die Kosten der notwendigen medizinischen Massnahmen. Mit dem 20. Altersjahr geht die Zuständigkeit auf die obligatorischen Krankenpflegeversicherung über.  Beim Übergang von der IV auf die OKP kann es sein, dass z.B. Medikamente, die von der IV übernommen wurden, nicht auf der Spezialitätenliste sind.  Auch sind die sonstigen Leistungen aus dem Bereich der IV nicht immer mit denen aus der OPK deckungsgleich.

Wie sehen Sie die Zukunft der Diagnose und Therapie bei seltenen Erkrankungen?

Es ist viel zu tun und es bewegt sich vieles. Mit Hilfe der künstlichen Intelligenz und dem Schweizer Register für Seltene Krankheiten wird es immer einfacher, rasch und zuverlässig die richtige Diagnose zu stellen. Ob dann allerdings eine Therapieoption besteht, hängt stark von der Entwicklung der entsprechenden Medikamente ab. Ausserdem kommen den zuverlässigen Informationen und Vernetzung der vielfältigen Akteure im Bereich der seltenen Krankheiten grosse Bedeutung zu. Zentral sind zudem die nationalen Bemühungen, wie sie sich im Nationalen Konzept Seltene Krankheiten widerspiegeln. Als eine der Herausforderungen ist die Aus- und Weiterbildung im Bereich seltene Krankheiten zu nennen. Es ist wichtig, dass die Gesundheitsfachpersonen, aber auch die Patientenorganisationen und die Betroffenen über Existenz und Zugangsmöglichkeiten zu spezialisierten Versorgungsstrukturen informiert sind, damit sie diese konsultieren können und Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Krankheit weiterverwiesen werden können.  

Das Kompetenzzentrum Medizin-Ethik-Recht Helvetiae der Universität Zürich bietet in Zusammenarbeit mit dem Universitären Forschungsschwerpunkt ITINERARE ab September 2024 einen WeiterbildungsstudiengangCAS Rare Diseases - eine interdisziplinäre Herangehensweise» an. Hier werden die zentralen Themen zu Rare Diseases mit Expertinnen und  Experten verschiedener Fachrichtungen besprochen. Damit wird eine Lücke geschlossen und die Versorgung im Bereich Seltene Krankheiten weiter verbessert. 

Stand: Februar 2024