"Orphanet Schweiz", Interview mit Dr. Loredana D'Amato Sizonenko
Zitat: «Orphanet spielt eine entscheidende Rolle bei der Sammlung und Verbreitung von Informationen und bei der Unterstützung des Umgangs mit seltenen Krankheiten.»
Sie beschäftigen sich bereits seit vielen Jahren mit seltenen Krankheiten und haben in der Schweiz Orphanet gegründet. Wie sind Sie zu dieser Spezialisierung gekommen?
Meine doppelte Ausbildung zur Kinderärztin und Ärztin für Genetik, die ich in der Schweiz und in Neuseeland absolviert habe, hat mich besonders gegenüber Patienten mit seltenen Krankheiten exponiert und sensibilisiert, da „das Seltene“ überwiegend pädiatrisch und genetisch bedingt ist.
In der Schweiz wurde die Problematik «seltener Krankheiten» Anfang der 2000er Jahre weitgehend ignoriert und war unbekannt, und es war schwierig, auf nationaler Ebene Expertenressourcen zu identifizieren, die den Bedürfnissen der Patienten und ihrer Familien gerecht werden konnten.
Im Anschluss an die Einrichtung des Orphanet-Servers in Frankreich unterstützte die Europäische Kommission ab 2000 die Ausweitung des Netzwerks: Deutschland, Italien, Belgien und die Schweiz wurden dann 2001 Partner des ersten europäischen Vertrags.
Die Gelegenheit für mich, die nationale Koordination von Orphanet zu übernehmen, ergab sich Ende 2003, als die erste Koordinatorin beschloss, ins Ausland zu gehen. Die Herausforderung war doppelt so gross, da die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union ist, mussten zunächst nationale Finanzierungsquellen erworben werden, um ein Teilzeitgehalt zu sichern. Zweitens stellte die Aufgabe, alle Expertenressourcen für seltene Krankheiten in einem mehrsprachigen Land mit einem nicht zentralisierten Gesundheitssystem zu identifizieren und aufzulisten, eine enorme Aufgabe dar, da die Informationen, die sich insbesondere auf Expertenzentren und Referenzlabore beziehen, gesammelt und validiert werden mussten. Dies hatte Auswirkungen auf die Praxis, daher muss man rigoros vorgehen. Dies gilt umso mehr, als es zu diesem Zeitpunkt keine gesetzliche Definition von Referenzzentren gab.
Mit der finanziellen Unterstützung der Stiftung Telethon Aktion Schweiz habe ich mich schliesslich dieser Herausforderung gestellt, um vor allem auf die Schwierigkeiten zu reagieren, die ich in meiner klinischen Praxis hatte, um auf diese „unsichtbaren“ Ressourcen zugreifen zu können, um die Patienten an die richtigen Strukturen zu verweisen.
Wie kam es damals zur Gründung von Orphanet in Frankreich?
1996 wurde von der Mission der Orphan Medikamente des französischen Ministeriums für Beschäftigung und Solidarität eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Die Gruppe sollte eine Übersicht über die Probleme erstellen, denen Patienten und Fachleute im Bereich der seltenen Krankheiten begegnen. Die Schlussfolgerung des Berichts lautete, dass die Einrichtung eines Informationsservers im Internet für Fachleute und Patienten empfohlen wurde. In Bezug auf die Patienten hatte die Arbeitsgruppe nach zahlreichen Debatten beschlossen, Patienten Zugang zu Informationen zu gewähren. Bei so schwerwiegenden Erkrankungen wie seltenen Krankheiten wünschen sich die Patienten den gleichen Informationsstand wie die Ärzte. Der Bericht wurde sehr schnell umgesetzt, denn Orphanet startete am 1. Januar 1997 und wurde von der Direction Générale de la Santé (DGS) und dem Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale (INSERM) finanziert.
Wie ist Orphanet aufgebaut, wie funktioniert es?
Die europäische Dimension von Orphanet war von Anfang an geplant, denn für Tausende von Krankheiten sind die Experten in Europa verstreut, manchmal befinden sie sich auf einem anderen Kontinent. Es gab eine starke Lobbyarbeit in Frankreich, um Europa dazu zu bringen, sich für seltene Krankheiten zu interessieren. Nach einer Ausschreibung im Jahr 1999 wurde Orphanet von der Europäischen Kommission ausgewählt, um der europäische Server für seltene Krankheiten zu werden.
Orphanet ist heute ein internationales Netzwerk, das 40 Länder umfasst und dessen Entscheidungsgremium der Verwaltungsrat ist, der sich aus den nationalen Koordinatoren zusammensetzt. Seine Aufgabe ist es, das Projekt so auszurichten, dass allen Nutzern ein optimaler Service geboten wird, die Aufnahme neuer Mitglieder zu bewerten und den Fortbestand des Netzwerks zu sichern.
Auf operativer Ebene ist das Orphanet-Koordinationsteam mit Sitz bei INSERM in Paris für die Verwaltung der Netzwerkaktivitäten, die Aufrechterhaltung der Projektinfrastruktur, die Pflege der Orphanet-Nomenklatur und die Produktion der wissenschaftlichen Datenbank und der Enzyklopädie verantwortlich. Ausserdem sorgt sie für die Ausbildung der Netzwerkmitglieder und die Qualitätskontrolle der Ressourcenverzeichnisse in den teilnehmenden Ländern.
Die nationalen Orphanet-Teams, die in jedem Mitgliedsland vertreten sind, werden von einem nationalen Koordinator geleitet, der für die nationalen Aktivitäten (Finanzierung, Partnerschaften und Vernetzung, Sammlung und Verbreitung von Informationen, ...) verantwortlich ist. Sie können auch einen Projektmanager und einen oder mehrere wissenschaftliche Dokumentalisten umfassen. Ihre Aufgabe ist es, nationale Expertenressourcen zu sammeln und zu registrieren (Patientenorganisationen, Expertenzentren, Diagnoselabors, Forschungsprojekte, klinische Studien, Register und Biobanken). Sie bilden ausserdem den nationalen Hub für die Implementierung der Orphanet-Nomenklatur (Orphacodes) in die Gesundheitssysteme und sorgen für die Verbreitung nationaler Aktivitäten im Zusammenhang mit seltenen Krankheiten.
Das Schweizer Team ist seit 2001 am Universitätskrankenhaus Genf angesiedelt und besteht aus einer Koordinatorin (Dr. L. D'Amato Sizonenko), einem Projektleiter (M. Arles) und einer Dokumentarin (B. Geissbühler) - www.orphanet.ch.
Warum sind seltene Krankheiten in anderen Kodierungssystemen „unterrepräsentiert“?
Die am häufigsten verwendeten medizinischen Terminologien sind in erster Linie auf die Bedürfnisse des öffentlichen Gesundheitswesens und der medizinischen Rechnungsstellung zugeschnitten. Die ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision) zum Beispiel, die weltweit einschliesslich der Schweiz weit verbreitet ist, deckt nur 8 % der seltenen Krankheiten ab. Die Unterrepräsentation seltener Krankheiten lässt sich durch mehrere Faktoren erklären. Der Schwerpunkt liegt auf häufigen Krankheiten, die in der Klinik und in der Epidemiologie verwendet werden. Viele seltene Krankheiten werden unter generischen Codes zusammengefasst, was eine genaue Identifizierung und eine spezifische Behandlung erschwert. Schliesslich waren seltene Krankheiten aufgrund ihrer geringen Prävalenz und des Mangels an wirtschaftlichen Anreizen nicht immer eine Priorität für Entscheidungsträger im öffentlichen Gesundheitswesen und in der Pharmaindustrie.
Wie erfolgreich ist die Orphanet-Nomenklatur, wie unterscheidet sie sich von anderen Kodierungssystemen?
In diesem Zusammenhang zeichnet sich Orphanet dadurch aus, dass es eine Nomenklatur anbietet, die speziell auf seltene Krankheiten zugeschnitten ist. Eine gemeinsame Sprache mit spezifischen Codes für seltene Krankheiten ist von entscheidender Bedeutung, um seltene Krankheiten wirksam zu überwachen und darüber zu berichten. Die Orphanet-Nomenklatur für seltene Krankheiten (ORPHAcodes), die in 9 Sprachen verfügbar ist, wurde in einer spezifischen Empfehlung der Expertengruppe der Europäischen Kommission für seltene Krankheiten (CEGRD, 2014) als die am besten geeignete Nomenklatur für die klinische Kodierung seltener Krankheiten in Europa anerkannt.
Der Orphacode soll die Identifizierung und Klassifizierung dieser Krankheiten in den Gesundheitssystemen erleichtern und ermöglicht eine bessere Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten, indem ihnen ein eindeutiger Code zugewiesen wird, der eine genauere medizinische und administrative Überwachung ermöglicht. Das System hilft auch bei der Sammlung von Daten für die Forschung und bei der Sensibilisierung von Gesundheitsfachkräften für seltene Krankheiten.
Die Orphanet-Nomenklatur ist nach medizinischen Fachgebieten geordnet, um die multidimensionale Natur seltener Krankheiten widerzuspiegeln. Jede Krankheit kann je nach ihrer klinischen Präsentation mehreren Fachgebieten angehören und daher in mehreren Klassifikationen enthalten sein.
Wie helfen Orphanet und die Orphacodierung Patienten mit seltenen Krankheiten konkret? Wie hilft es, Patienten im Gesundheitssystem und in der Politik sichtbar zu machen?
Die Orphanet-Nomenklatur mit den Orphacodes ist die einzige Nomenklatur, die speziell auf seltene Krankheiten ausgerichtet ist. Sie zeichnet sich durch mehrere wesentliche Aspekte aus:
- Umfassende Abdeckung: Orphanet listet alle bekannten seltenen Krankheiten auf und bietet so eine präzise und vollständige Klassifizierung.
- Eine bessere Sichtbarkeit für Patienten: Die Integration der ORPHAcodes in die Gesundheits- und Forschungssysteme ermöglicht eine bessere Erkennung seltener Krankheiten, wodurch der Zugang zur Versorgung und zu geeigneten Ressourcen erleichtert wird. Um das Wissen und die Entwicklung von Behandlungsmethoden voranzutreiben, ermöglicht sie ausserdem die Identifizierung von Patienten, um ihnen Zugang zu Forschung und klinischen Studien zu verschaffen.
- Optimierte Versorgung: Die genaue Identifizierung der Erkrankungen verbessert den Behandlungspfad, die medizinische Überwachung und die Einführung geeigneter Behandlungsstrategien.
Welchen Beitrag leistet Orphanet für die Forschung?
Orphanet spielt eine wichtige Rolle bei der Förderung der Forschung im Bereich seltener Krankheiten, indem es Forschenden, Klinikern und Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen wichtige Ressourcen zur Verfügung stellt. Orphanet und seine Nomenklatur sind mittlerweile ein international anerkannter Standard für mehrere Programme und wurde vom International Research Consortium on Rare Diseases (IRDiRC) weltweit als Ressource benannt, die zur Beschleunigung der Forschung im Bereich seltener Krankheiten beiträgt.
Orphanet trägt zur Forschung bei, indem es über die Orphadata-Plattform (www.orphadata.com) integrierte und wiederverwendbare Daten bereitstellt. Diese Ressourcen werden in mehrere bioinformatische Projekte und Infrastrukturen weltweit integriert, um die Diagnose und Behandlung seltener Krankheiten zu verbessern.
Die Plattform ermöglicht auch den Zugang zu Forschungsressourcen und -infrastrukturen, die für Forscher von entscheidender Bedeutung sind, wie z. B. spezialisierte Expertenzentren, laufende Forschungsprojekte und klinische Studien, die es ermöglichen, Entwicklungsprojekte zu identifizieren und an internationalen Studien mitzuarbeiten, und schliesslich Biobanken, in denen wertvolle biologische Proben für die Forschung aufbewahrt werden.
Was sind die Schwierigkeiten von Orphanet in der Schweiz?
Die Hauptschwierigkeit ist die Finanzierung, die im Wesentlichen die Gehälter von zwei Stellen abdeckt, und die jährliche Suche nach finanzieller Unterstützung bleibt eine Herausforderung.
Als Nicht-EU-Mitglied musste die Schweiz als Partner von Anfang an seine eigene Finanzierung sicherstellen und erhielt bis 2015 sukzessive Unterstützung von der Stiftung Telethon Schweiz, verschiedenen Lotterien, Verbänden und Stiftungen sowie der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK).
Obwohl die Schweizer Behörden die Rolle von Orphanet als Instrument der öffentlichen Gesundheit anerkennen, sind sie aufgrund der fehlenden rechtlichen Grundlagen noch nicht in der Lage, Orphanet Schweiz finanziell zu unterstützen. Das Inkrafttreten des gesetzlichen Rahmens ist für 2027-28 angekündigt. Es wird 25 Jahre gedauert haben, bis die Hoffnung besteht, Orphanet Schweiz dauerhaft zu sichern.
Eine weitere Schwierigkeit besteht in den sprachlichen und kulturellen Unterschieden zwischen der französischen und der deutschen Schweiz, was die Zusammenarbeit und die Integration von Informationen über seltene Krankheiten in Orphanet nicht erleichtert hat. Diese Situation führt zu einer ungleichen Abdeckung der verfügbaren Dienstleistungen im ganzen Land. Dank der Partnerschaft mit der kosek im Rahmen der Anerkennung von Netzwerken und Referenzzentren verbessert sich die Vollständigkeit und die geografische Abdeckung der Daten. Die Sicherstellung der Aktualität der Informationen bleibt eine Herausforderung, denn je mehr Daten veröffentlicht werden, desto mehr muss aktualisiert werden.
Schliesslich muss, obwohl die meisten Fachleute Orphanet kennen und nutzen, noch viel Kommunikationsarbeit geleistet werden, um sicherzustellen, dass die von Orphanet angebotenen Dienste in der breiten Öffentlichkeit besser wahrgenommen werden.
Was möchten Sie interessierten Personen aus der Öffentlichkeit und Fachleuten noch mitteilen?
Ich möchte betonen, dass Orphanet Schweiz eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung des Umgangs mit seltenen Krankheiten in der Schweiz gespielt hat und weiterhin spielt.
Seit 2001 ist es der führende Schweizer Akteur im Bereich der seltenen Krankheiten. Dank der anfänglichen Erfassungsarbeit insbesondere von Patientenorganisationen und mehreren Experten ermöglichte Orphanet Schweiz die Gründung von ProRaris im Jahr 2010, gefolgt von der Organisation des ersten internationalen Tages der seltenen Krankheiten in der Schweiz im Februar 2011 zum Thema des ungleichen Zugangs zur Gesundheitsversorgung. Dieses Ereignis, über das in den Medien ausführlich berichtet wurde, trug dazu bei, dass die Problematik der seltenen Krankheiten ins politische Bewusstsein rückte, was zur Verabschiedung eines nationalen Konzepts für seltene Krankheiten durch den Bundesrat im Jahr 2014 führte.
Auch heute noch ist Orphanet Schweiz ein unverzichtbarer Akteur. Orphanet spielt eine entscheidende Rolle bei der Sammlung und Verbreitung von Informationen und bei der Unterstützung des Umgangs mit seltenen Krankheiten. Wir arbeiten eng mit der kosek zusammen, um die Sichtbarkeit der Schweizer Expertenzentren zu gewährleisten, und mit dem Schweizer Register für seltene Krankheiten, um die Sichtbarkeit der Patienten in den Gesundheitssystemen zu gewährleisten.
Orphanet ist kostenlos zugänglich und in 9 Sprachen verfügbar und ist ein wichtiges Werkzeug für alle Zielgruppen (www.orpha.net). Der Schweizer Orphanet-Eingangspunkt www.orphanet.ch und unsere Facebook-Seite bietet Zugang zu den für die Schweiz relevanten Informationen, aktuellen Nachrichten und interessanten Ereignissen im Bereich der seltenen Krankheiten zur Veröffentlichung.
Kontaktieren Sie uns unter contact@orphanet.ch!
Abschließend möchte ich Ihnen für die Gelegenheit danken, Ihnen Orphanet und die Arbeit des Schweizer Teams seit über 20 Jahren vorstellen zu dürfen, in der Hoffnung, ihnen die verdiente Sichtbarkeit und Anerkennung zu verschaffen, denn „Wenn es um seltene Krankheiten geht, ist Orphanet keine Option, sondern eine Notwendigkeit!“
(Quelle: ITINERARE/ Interview: Carola Fischer/Stand: Februar 2025)